1. Lesen ist Freiheit. 2. Wer liest, ist ein Dummkopf. 3. Lesen ist sehen, hören, denken. 4. Lesen ist schreiben. 5. Wer liest, erfindet. 6. Lesen heißt verstehen. 7. Lesen heißt nichts zu
verstehen. 8. Lesen ist unsterblich. 9. Lesen heißt fliehen. 10. Buchstaben entziffern = Erbsen lesen. 11. Der Körper liest mit. 12. Typografie ist die materielle Erscheinung des Textes. 13. Lesen
ist ausschließen. 14. Lesen ist Macht. 15. Der Autor ist tot. 16. Lesen ist ein egoistischer Akt. 17. Lesen können heißt unabhängig sein. 18. Es lebe die Autorin. 19. Wer liest, hat Geheimnisse. 20.
Lesen macht einsam. 21. Lesen bringt Freunde. 22. Analog - digital - egal. 23. Lesen ist ein Statement. 24. Lesen ist gefährlich. 25. Lesen zerstört. 26. Lesen erschafft Räume.|
Zahlen tanzen im Raum, rasen wie Menschen in modernen Tanzstücken über die Bühne. Buchstaben hängen an Linien wie Wäsche auf der Leine, alle in einer Reihe, stillgestanden und zum endlosen Exerzieren verdammt. Dabei sind sie umrahmt von Kästen, Seiten, Bildschirmen – eingezäunt. Erst links, dann rechts, oben, unten, Punkt. Der Schrift kommt „das Statut einer testamentarischen Hinterlassenschaft zu“ (Marianne Schuller, "Im Unterschied"). Buchstaben gehen nicht allein, erst als kleinste gemeinsame Einheit von mindestens zwei, die einander Anfang und Ende sind, entfalten sie ihre sinngebende Bedeutung. Ohne Kompanion ist ein D nur ein Zeichen, eines zwar, das uns bekannt ist und insofern mehr als eine beliebige Kombination aus senkrechtem Strich und fast kompletten Halbkreis, aber keines, das ein Bild im Kopf produziert – höchstens das Bild einer Reihe von Buchstaben, die zusammen die grundlegende Einheit unserer Schriftkultur bilden: Das Alphabet. Wenn aber das D auf ein U trifft und in ihm einen ebenbürtigen Begleiter findet, den Fuß zu seinem Kopf, den Deckel für seinen Topf, dann sind sie zusammen mehr als die Summe ihrer Einzelteile. D und U in direkter Abfolge hintereinander wachsen zusammen, sind in dem Moment unzertrennlich, in dem sie durch magnetische Kräfte einander gefunden haben. Auf dem Boden, in dem ihrer beiden Wurzeln sich ineinander ranken, wächst das DU und sofort sprießen 1 Milliarde verschiedene Bilder aus diesem befruchteten Boden hervor, so viele wie es Augenpaare gibt, die diese beiden Buchstaben in ihrer besonderen Beziehung zueinander erkennen, so viele wie es Köpfe gibt, die dieses Erkennen im Bruchteil einer Sekunde in ein Bild verwandeln. DU - das ist nicht ICH, sondern außen und zwar ein ganz besonderes außen, nämlich ein zweites Subjekt in der Peripherie der eigenen Subjekthaftigkeit, irgendwo kurz hinter der Grenze zwischen innen und außen. (Lisa Rein, 2016)